Die Ethik der Anderen
Was tun, wenn der Vorgesetzte einen dazu auffordert, ein wenig zu schummeln, Fünfe mal gerade sein zu lassen oder gar ganz offen gegen Compliance-Regeln zu verstoßen? Diesen und anderen Fragen ging die Studie EY Global Integrity Report 2024 nach. EY steht für Ernst & Young, eines der vier größten Wirtschaftsberatungsunternehmen der Welt. Für die Studie hat EY in 53 Ländern über 5000 Personen befragt, Angestellte, Manager und Vorstandmitglieder. Die Ergebnisse zeigen zwar ein eher uneinheitliches, manchmal sogar widersprüchliches Bild, doch eines zeigen sie eben auch: Die Einhaltung von Compliance-Regeln ist weltweit ein großes Thema, aber längst nicht jeder ist bereit, sich bedingungslos an solche Vorgaben zu halten. DOKTUS hat sich die Umfrage genauer angesehen.
Was gibt es für Gründe, um gegen Compliance-Regeln zu verstoßen?
Das Sprichwort sagt schon, dass der Frömmste nicht in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. So ähnlich ist es auch mit den Compliance-Regeln. Fast 90 Prozent aller Befragten sind davon überzeugt, dass sich in ihrem Unternehmen Kolleginnen und Kollegen stets nach Recht, Gesetz und Vorschriften verhalten. Die Hälfte ist der Meinung, dass sich die innerbetrieblichen Standards bezüglich Integrität verbessert haben. Doch schaut man genauer hin, sieht das schon ein wenig anders aus. 47 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass die größte Gefahr für die Integrität von den eigenen Mitarbeitern ausgeht. Immerhin ein Viertel der Interviewpartnerinnen und -partner meint, dass durch mangelnde Netzsicherheit Gefahren für die Compliance-Regeln ausgehen. 22 Prozent nennen Gesundheitskrisen als Grund. Daraus spricht vermutlich noch die jüngste Erfahrung mit Corona. Auch finanzielle Krisen des Unternehmens oder Lieferengpässen könnten es korrumpieren, glauben ebenfalls etwa 22 Prozent.
Alle sind sauber, fast immer
Ein Widerspruch fällt natürlich sofort ins Auge. Zwar glauben 90 Prozent, dass in ihren Unternehmen alles mit rechten Dingen zugeht. Andererseits glaubt fast die Hälfte, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine potentielle Gefahr sind. Der Widerspruch erklärt sich allerdings schnell, wenn man die Antwort auf eine andere Frage sieht. EY wollte wissen, wer bereit sei, gegen Compliance-Regeln zu verstoßen, wenn sie oder er von Vorgesetzten dazu aufgefordert würden. Fast 40 Prozent der Befragten würden einer solchen Aufforderung nachkommen. Wenn es also zum Schwur kommt: Loyalität gegenüber einem Vorgesetzten oder Gesetzestreue zu wahren, liegt das Gesetz nur knapp in Führung.
Mehr Toleranz auf höheren Ebenen vermutet
Ein anderes Ergebnis lässt auch noch aufhorchen. Etwa ein Drittel der Befragten glaubt, dass ein Verstoß gegen die Compliance-Regeln eher toleriert wird, wenn es sich um Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter aus der Führungsebene oder wenn es sich um eine besonders erfolgreiche Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter handelt. Dahinter steckt die uralte Vermutung, dass nur die Kleinen gehängt, die Großen aber laufen gelassen werden. Für Tobias Schumacher von EY Deutschland kann aber gerade das „verheerend sein und sämtliche Integritätsbemühungen untergraben.“
Trotzdem ein positives Fazit
Allerdings zieht Tobias Schumacher aus der Umfrage trotz allem ein positives Fazit. Was ihm besonders gefallen hat, war die Aussage, nach der jeder zweite glaubt, dass sich die Integrität im Unternehmen in den letzten beiden Jahren verbessert habe. Er nennt das „ein starkes Signal“, warnt aber gleichzeitig davor, „sich auf den Erfolgen auszuruhen.“ Nach wie vor lastet aus seiner Sicht ein starker Druck auf den Unternehmen. Als Gründe nennt er eine schwache Konjunktur, eine unübersichtliche Weltlage und eine weitere weltweite Bedrohung der Cybersicherheit. Das sind alles Faktoren, die es nicht einfacher machen, Compliance-Regeln vorbildlich zu leben.
Peter S. Kaspar
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