Die Rückkehr der Stechuhr – Vertrauensarbeitszeit ist passé
Noch im Mai hatte das Bundesarbeitsgericht geurteilt, dass Arbeitnehmer für die Erfassung ihrer Überstunden selbst verantwortlich sind. Umso überraschender scheint nun das jüngste Urteil des höchsten deutschen Arbeitsgerichts. Danach sind die Arbeitgeber zu einer vollständigen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Angestellten verpflichtet. DOKTUS hat als überbetrieblicher betriebsmedizinischer Dienst schon immer darauf hingewiesen, dass die geforderten Ruhezeiten etwa im Home Office während der Pandemie mit der Vertrauensarbeitszeit schwer zu kontrollieren sind. Arbeitssicherheit muss nachvollziehbar sein, auch was die Arbeitszeiten anbelangt. Sonst ist der Schutz durch den Betriebsarzt nicht gewährleistet.
Gericht in Erfurt folgt dem EuGH
Die vorsitzende Richterin des ersten Senats begründete das Urteil unter anderem mit dem Richterspruch des Europäischen Gerichtshofes. Der hatte bereits 2019 angemahnt, dass das in Deutschland verbreitete Modell der Vertrauensarbeitszeit nicht mit europäischem Recht vereinbar sei und die Bundesregierung aufgefordert, das deutsche Arbeitsrecht entsprechend anzupassen. Doch die kurz darauf ausgebrochene Corona-Pandemie sorgte in Deutschland dafür, dass diese Praxis eher noch ausgedehnt als eingedämmt wurde. Durch Homeoffice und Telearbeit nahm die Vertrauensarbeitszeit deutlich zu. Ein rechtlicher Rahmen ist dafür bis heute noch nicht geschaffen.
Kommt nun wieder die Stechuhr?
Die Reaktionen auf das Urteil fallen sehr unterschiedlich aus. Spiegel online nennt das Urteil „wegweisend und überfällig.“ In seinem Kommentar schreibt Florian Gontek: „Denn für viele heißt Vertrauensarbeitszeit auch: Arbeiten ohne Ende, niemals fertig werden, kein Ausgleich für Mehrarbeit“. Der Bonner Professor für Arbeitsrecht Gregor Tüsing spricht von einem „Paukenschlag“. Ob der allerdings tatsächlich zur Rückkehr der Stechuhr und dem Ende der Vertrauensarbeitszeit führen wird, ist für ihn noch nicht ausgemacht. Beim Nachrichtensender der „Welt“ verwies Tüsing darauf, dass es auch in anderen europäischen Ländern der Vertrauensarbeit ähnliche Modelle gebe, die vom Europäischen Gerichtshof nicht beanstandet wurden. Zudem, so Tüsing, liege die ganze Urteilsbegründung auch noch nicht vor. Er warnte, voreilige Schlüsse zu ziehen. Die Arbeitgeber kritisierten das Urteil. Es sei „überstürzt und nicht durchdacht“. Für die Gewerkschaften ist das Urteil dagegen längst überfällig. „Die Arbeitszeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus, die Zahl der geleisteten Überstunden bleibt seit Jahren auf besorgniserregend hohem Niveau”, meinte Anja Piel, Mitglied im Vorstand des DGB.
Gericht bringt Regierung in Schwierigkeiten
Zwar hatte die Regierung in der Vergangenheit immer wieder darauf verwiesen, dass deutsche Arbeitsrecht mit dem Urteilsspruch des EuGH in Einklang zu bringen. Doch bislang blieb es bei Absichtserklärungen. Immerhin fand der Punkt Eingang in den Koalitionsvertrag. Dort steht zu lesen: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.” Nun sah sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil genötigt, das alles ein wenig zu präzisieren. Der SPD-Politiker verwies dabei darauf, dass sein Haus das Urteil noch genauer prüfen müsse. Ungeachtet dessen plant das Arbeitsministerium schon länger einen „Arbeitszeitgipfel“ mit Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Einen Zeitrahmen blieb der Minister allerdings schuldig.
Urteil wirkt wie ein Gesetz
Eine Sprecherin des Bundesarbeitsgerichts wies darauf hin, dass das Urteil „quasi wie ein Gesetz“ wirke. Sie schränkte allerdings ein, dass es nicht so detailliert sei, wie es ein Gesetz wäre. Zu dem Urteil kam es, weil der Betriebsrat einer vollstationären Wohneinrichtung geklagt hatte. Er wollte eigentlich „nur“ das Initiativrecht für eine elektronische Zeiterfassung erreichen. Dieses Ziel schien mit dem Erfolg vor dem Landesarbeitsgericht fast erreicht. Das Bundesarbeitsgericht hingegen wies die Klage des Betriebsrates zurück und begründete es damit, dass die Arbeitgeberseite eine Verpflichtung habe, die Arbeitszeit zu erfassen.
Peter S. Kaspar