Bei Blitzeis zu Hause bleiben?
Auf die ohnehin schon erschreckenden Wetteraussichten folgte dann noch die unmissverständliche Warnung: „Niemand soll, wenn nicht unbedingt nötig, das Haus verlassen.“ Trotzdem forderte das Blitzeis, das von Südwest nach Nordost über das Bundesgebiet zog, zahlreiche Verletzte und sogar Tote. Nicht wenige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürften sich angesichts der Gefahren, die die Glätte mit sich bringt, überlegt haben, ob der Weg zur Arbeit zu jenen „unbedingt nötigen“ Dingen gehört, die es rechtfertigen, sich in eine potentielle Gefahr zu begeben. Aus Sicht der Betriebsärzte von DOKTUS ist der Fall klar: Wer seinen Weg zur Arbeit witterungsbedingt für zu gefährlich hält, sollte lieber beim Arbeitgeber anrufen und sich für den Tag abmelden.
Auf dem Weg versichert
Dass der Rat aus Sicht des Arbeitsschutzes und der Arbeitssicherheit logisch erscheint, ist klar. Doch wer ein wenig im Netz stöbert, findet zu dem Thema bisweilen Erstaunliches. So wurde etwa höchstrichterlich festgestellt, dass besondere Vorsicht bei einem witterungsbedingt heiklen Arbeitsweg, zwar löblich sei, aber leider auch den Versicherungsschutz aufs Spiel setzen kann. Ein Arbeitsnehmer wollte vor der Abfahrt zu seiner Arbeitsstelle noch die Straßenverhältnisse prüfen. Und ja, es war glatt, es war sogar so glatt, dass er auf dem vereisten Straßenpflaster landete und sich dabei verletzte. Ein klassischer Fall von Wegeunfall, dachte sich das Unfallopfer – doch es war nur ein klassischer Fall von Denkste! Die Unfallkasse wollte nicht bezahlen, der Fall landete schließlich in Kassel vor dem Bundessozialgericht. Und auch dort scheiterte der Arbeitnehmer. Die Bundesrichter schrieben in ihr Urteil, dass „die Handlungsweise vernünftig gewesen sei, aber objektiv erforderlich war sie nicht.“ Wäre der Mann, statt das Glatteis auf der Fahrbahn zu prüfen, gleich losgefahren und auf jener vereisten Stelle in den nächsten Graben gerutscht, wäre er im Verletzungsfall versichert gewesen.
Lieber kein Risiko eingehen?
Es bleibt ja noch der schwache Trost, dass das Auto heil geblieben ist. Doch was wäre denn die Alternative gewesen? Zu Hause zu bleiben! Tatsächlich kann in solch einem Fall einer Arbeitnehmerin oder einem Arbeitnehmer wenig passieren. Die IG Metall weist in einer Pressemitteilung darauf hin, dass eine Unwetterwarnung den Weg zur Arbeit unzumutbar machen könne. Das würde dann eine „begründete Arbeitsverhinderung“ darstellen. Die lässt sich nun von einem Arbeitgeber schlecht abmahnen. Allerdings bleibt die Abwesenheit trotzdem nicht ohne Folgen. Eine Lohnfortzahlung gibt es bei der „begründeten Arbeitsverhinderung“ im Gegensatz zur Krankheit nicht. Wer also wegen Glatteis oder Sturm seine Tätigkeit nicht antritt, muss dafür auch nicht bezahlt werden. Anders sieht es hingegen aus, wenn ein Unwetter die Arbeit unmöglich macht. Bauarbeiter müssen natürlich trotzdem entlohnt werden, auch wenn die Baustelle zum Beispiel so vereist ist, dass dort niemand arbeiten kann.
Allzweckwaffe Betriebsvereinbarung
Wenn das Arbeitsrecht in manchen Situationen nicht klar ist, dann kann im Zweifelsfall noch immer eine Betriebsvereinbarung ausgehandelt werden. Sie kann zum Beispiel regeln, wie es der Betrieb bei einer Gefahrenwetterlage halten will. Während der größere Teil der Arbeitsgeber vermutlich auf eine vernünftige und pragmatische Lösung setzen wird, gibt es auch Fälle, die Fachleute nur den Kopf schütteln lassen. So wandte sich der Mitarbeiter eines Hotels hilfesuchend an einen Anwalt für Arbeitsrecht. Der Mann berichtete, dass sein Arbeitgeber mit Beginn der kalten Jahreszeit darauf bestanden habe, dass seine Mitarbeiter eine Vereinbarung unterschreiben sollten, in der sie im Falle einer Unwetterwarnung bei einem Unfall auf dem Weg zur Arbeit darauf verzichten würden, ihn als Wegunfall zu betrachten. Wer die Unterschrift verweigerte, dem drohte der Arbeitgeber mit Abmahnung. Der Anwalt riet dem Mann dennoch, die Vereinbarung auf keinen Fall zu unterschreiben, weil er damit im Ernstfall auf wichtige Leistungen, wie etwa eine Unfallrente, verzichten würde. Das Verhalten des Hotels konnte sich der Jurist allerdings nicht erklären. Bei einem Wegeunfall eines seiner Beschäftigten hat der Arbeitgeber schließlich keine einschneidenden finanziellen Folgen zu fürchten. Immerhin steht ja dann die Berufsgenossenschaft ein.
Muss der Gesetzgeber handeln?
Nach den letzten Wintern war der Kälteeinbruch mit schwerem Glatteis eher ein außergewöhnliches Ereignis. Vor wenigen Jahren gehörte das noch zur Normalität. Inzwischen sind schwere Wetterwarnungen eher im Sommer zu erwarten. Doch auch ein Sturm, der Bäume entwurzelt und Dächer abdeckt, kann für einen lebensgefährlichen Arbeitsweg sorgen. In der Tendenz steigt die Zahl der Wetterwarnungen an. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Arbeitssicherheit, wenn der Weg zur Arbeit tendenziell gefährlicher wird. Doch ein Blick ins Netz offenbart, dass die derzeit herrschende Gesetzeslage durchaus zu absurden Situationen – und Urteilen – führen kann. Betriebsärzte und Arbeitsmediziner definieren sich über die Prävention. Sie sollen verhindern, dass Berufskrankheiten ausbrechen oder Betriebsunfälle geschehen. Ein sicherer Arbeitsweg fällt somit auch in ihren Bereich. Aus ihrer Sichte wäre eine präzisere Gesetzeslage sicher hilfreich.
Peter S. Kaspar