Eine Epidemie der Seele?
Schon im vergangenen Jahr hatte das Robert-Koch-Institut Alarm geschlagen. Die Zahlen der Krankschreibungen aus psychischen Gründen habe extrem zugenommen. Zwischen 1997 und 2010 haben sie sich demnach verdreifacht. Nach den aktuellen Zahlen der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) für das laufende Jahr, hat sich an der Entwicklung wenig geändert. Die Anzahl der Krankschreibungen hat sich im ersten Halbjahr 2024 verglichen mit dem ersten Halbjahr 2023 um 14,3 Prozent erhöht. Die Schweizer Versicherung Swica kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Die Eidgenossen hatten, nachdem auch dort eine Zunahme der psychischen Erkrankungen zu beobachten war, mangels eigener Datenlage ursprünglich auf deutsche Zahlenwerke zurückgegriffen. Eine eigene Untersuchung in Zusammenarbeit mit einer Kölner Hochschule hat nun auch eine ähnliche Entwicklung bestätigt. DOKTUS blickt hinter die Zahlen.
Wird der Arbeitsalltag härter?
Trotz der ansteigenden Kurve, die, laut Swica, in allen Industrieländern zu beobachten ist, will die Versicherung ausdrücklich nicht „Von einer epidemiologischen Zunahme psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung“ sprechen. Alarmierend sei es aber alle Mal. DAK-Vorstandschef Andreas Storm sieht allerdings in der aktuellen Entwicklung auch noch ganz besondere Gründe: „Die Beschäftigten in Deutschland stehen in diesen Kriegs- und Krisenzeiten weiterhin unter Druck, was sich auch beim Krankenstand zeigt.“ Doch rechnet man diese Sondereffekte heraus, bleibt noch immer die Frage, warum es immer mehr Arbeitnehmende gibt, die sich so stark seelisch angegriffen fühlen, dass sie zumindest zeitweise ihre Arbeitsfähigkeit verlieren. Der Gedanke liegt nahe, dass die Anforderungen im Beruf immer härter geworden sind. Daran hat die Swica allerdings leise Zweifel. In ihrem Bericht heißt es zu den gestiegenen Zahlen: „Die Zunahme der Krankschreibungen kontrastiert zudem mit einer ausgezeichneten und differenzierten psychiatrischen Versorgung, die in den letzten Jahrzehnten stark ausgebaut und professionalisiert wurde und zum anderen mit einer gewissen Enttabuisierung psychischer Störungen. Psychische Erkrankungen werden heute häufiger, früher und professioneller erkannt und behandelt.“ Geht es also nur um ein Wahrnehmungsproblem?
Psychische Erkrankungen „nur“ auf Platz drei
Noch immer werden die meisten Beschäftigten wegen Atemwegserkrankungen oder Allergien krankgeschrieben. Das trifft auf jede fünfte Arbeitsunfähigkeit zu. Doch schon 17,7 Prozent gehen auf Muskel- und Skeletterkrankungen, dicht gefolgt von psychischen Beeinträchtigungen. Die Diagnose bei Rückenschmerzen ist oft schnell gestellt. Zuviel Sitzen, zu wenig Sport, Verspannung des Rückens. Doch gerade hier lauert auch eine gewisse Dunkelziffer. Rückenschmerzen und Verspannungen können durchaus psychische Ursachen haben. In der Statistik tauchen diese Krankschreibungen dann oft in der Kategorie Skeletterkrankungen auf. Es ist also durchaus denkbar, allerdings nicht statistisch nachweisbar, dass die Anzahl der Arbeitsunfähigkeiten aus psychischen Gründen deutlich höher liegt, als die Statistik es ausweist.
Appell an Arbeitgeber
Wann immer Institute oder Versicherungen Alarm schlagen, folgen auch stets die Appelle an die Arbeitgeber. Der bleibt auch bei der DAK nicht aus: „Arbeitgeber sollten Stress und mögliche Belastungen in den Fokus rücken und sich verstärkt mit Fragen der psychischen Gesundheit ihrer Belegschaft und möglichen Hilfsangeboten beschäftigen.“ In wieweit diese Appelle wirklich auf fruchtbaren Boden fallen, ist ungewiss. Die Kollegen in der Schweiz hatten bei ihren Untersuchungen jedenfalls ziemlich ernüchternde Erfahrungen gemacht. Rückmeldungen gab es lediglich von der medizinischen Seite, meistens von Hausärzten, Psychologen oder Psychiatern. Die Resonanz von den Arbeitgebern blieb dagegen eher verhalten. Informationen gab es selten bis gar nicht. Das halten die Schweizer für fatal: „Eine Kenntnis der Arbeitgebersicht wäre schließlich nicht nur für die Arbeitsfähigkeitsbeurteilung wesentlich, sondern auch für die Behandlung hilfreich. Die Kenntnis der Arbeitgebersicht könnte wichtige alltagsbezogene Impulse geben auf Therapieziele und -vorgehen.“
Peter S. Kaspar